Deutschland Resilient: Wie sich die Sozialwirtschaft auf Krisenszenarien vorbereiten muss

Ein Gespräch mit Gerhard Müller über Resilienz, NATO Host Nation Support und die Verantwortung der Zivilgesellschaft

Ich hatte Zeit. Während ich mir die Zeit vertrieb und darauf wartete, dass meine Frau mit ihrem Friseurtermin fertig ist, schlenderte ich in eine Buchhandlung. In der Auslage fiel mir das aktuelle Buch "Deutschland im Ernstfall" von Ferdinand Gehringer und Johannes Steger in die Hände.

Als jemand, der sich selbst als eher risikoavers einschätzt (vor dem Hintergrund als Unternehmer), war ich neugierig und kaufte das Buch. Es beschreibt mehrere (überspitzte) Szenarien, anhand derer die Autoren die verschiedenen Mechanismen und Gesetzgebungen, Pläne und Vorbereitungen der Bundesregierung und der Bevölkerung skizzieren.

Beim Thema "Rahmenrichtlinien für die Gesamtverteidigung (RRGV)" blieb ich hängen. Das offizielle RRGV-Dokument vom Juni 2024 beschreibt Priorisierungen, Rahmen, Rollen und Aufgaben in der Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung in Deutschland im Falle von Krisen wie Naturkatastrophen, aber auch NATO-Unterstützung bei militärischen Operationen von NATO-Partnern (Host Nation Support) oder direkter Auseinandersetzungen.

Als Land in der Mitte Europas, als "Drehscheibe Deutschland", wie Olaf Scholz es nannte, kommt uns eine besondere Bedeutung zu. Prognosen gehen von bis zu 800.000 Soldaten aus, die durch Deutschland bewegt werden müssen – Maschinen, Gerätschaften und Fahrzeuge, Nahrung, Treibstoff und vieles mehr.

Wenn wir jetzt an die aktuellen Schlagzeilen rund um die Deutsche Bahn denken, Zugausfälle und Weichenstörungen, wird mir ganz unwohl bei dem Gedanken, dass 20, 30 oder 50 % der Kapazitäten von Schiene, Straßen, Häfen und anderer Infrastruktur nicht mehr für zivile Nutzung zur Verfügung stehen – ganz zu schweigen von dem zusätzlichen Aufwand von Disponenten, die das alles planen und koordinieren müssen.

Dazu kommen Flüchtende und Vertriebene, die untergebracht, versorgt, verpflegt und vielleicht auch integriert werden wollen. Nach 1945 hat das kleine Belgien 250.000 Flüchtlinge aufgenommen. Auf Deutschland könnte eine deutlich größere Zahl zukommen.

Lange Rede, kurzer Sinn: Wie kann oder muss die Sozialwirtschaft sich auf ein solches Szenario vorbereiten? Wie können solche Szenarien im Rahmen von Digitalisierung und Innovation in die Priorisierung von KI und digitaler Resilienz Einzug halten?


Einige Gedanken aus dem Gespräch mit Gerhard Müller, Geschäftsführer des Caritas Netzwerk IT e. V. und ehrenamtlicher Vorsitzender des Fachausschusses Digitalisierunhg bei der IHK für München und Oberbayern:

Thomas Schönweitz: Gerhard, ich habe dich zu diesem Gespräch eingeladen, weil du einerseits sehr tief in der Sozialwirtschaft verankert bist und mit vielen Trägern sprichst, andererseits aber auch einen stark technischen Hintergrund hast. Was ist deine erste Reaktion, wenn du an das Thema "Deutschland als NATO-Host Nation" denkst?

Gerhard Müller: Es ist tatsächlich ein Thema, das mich sehr beschäftigt – und das macht mir offen gesagt Sorgen. Wir sitzen da in einer klassischen "Boiling Frog"-Situation: Die Bedrohungslage durch Drohnen, Cyberangriffe und hybride Kriegsführung wird immer ein klein bisschen schlimmer, aber weil es kein großer Knall ist, kommt niemand auf die Idee, wirklich ernsthaft nachzudenken und sich vorzubereiten.

Auf der anderen Seite sind gegenwärtig die Herausforderungen ohnehin schon so groß – Personalmangel, Refinanzierungsprobleme, Digitalisierungsstau –, dass es unheimlich schwer ist, sich dann noch einem sehr komplexen und wichtigen Thema wie Krisenvorsorge überhaupt zu widmen.

Thomas: Du sprichst die aktuelle Überlastung an. Aber gleichzeitig haben wir ja durchaus Erfahrung mit Krisen – Corona, Flutkatastrophen, Flüchtlingsströme. Sind wir nicht schon gut vorbereitet?

Gerhard: Ja und nein. Caritas, Diakonie und die anderen Wohlfahrtsverbände haben durchaus Erfahrung mit Krisensituationen und gewisse Strukturen dafür. Gerade im Physischen – also Flüchtlingsunterbringung, Katastrophenhilfe – gibt es Routine.

Wo wir wirklich schlecht vorbereitet sind, ist im Cyberumfeld. Das ist einfach so weit weg von der normalen Welt der normalen Träger. Und was viele nicht auf dem Schirm haben: Was bedeutet es eigentlich konkret, wenn 800.000 NATO-Soldaten durch Deutschland müssen? Was passiert, wenn 30 % der DB-Cargo-Kapazität für Militärtransporte gebraucht werden? Wenn die rechte Spur auf der A9 standardmäßig für Militärkonvois gesperrt wird?

Thomas: Das hätte ja massive Auswirkungen auf die gesamte Logistik…

Gerhard: Exakt! Das ist nicht nur Verkehr – das sind gestörte Lieferketten. Die Tankstelle bekommt später ihren Sprit, die Pflegeeinrichtung ihr Mittagessen, das Krankenhaus seine Medikamente. Und parallel dazu haben wir möglicherweise massive Personalengpässe, wenn Pflegekräfte als Reservisten eingezogen werden oder wenn Mitarbeitende aus anderen Ländern zurück in ihre Heimat gehen, weil dort Krise ist.

Thomas: Das klingt nach einer massiven Ressourceneinschränkung in allen Dimensionen.

Gerhard: Genau das ist es. Wir müssen das Gleiche oder sogar mehr mit deutlich weniger Ressourcen leisten – ähnlich wie in Corona, nur potenziell noch extremer. Infrastruktur, Nahrungsmittel, Unterkünfte, Straßen- und Schienenkapazitäten – alles wird eng. Wir müssen mit Verzögerungen rechnen, wir bekommen bestimmte Sachen nicht oder viel langsamer.

Die unterschätzte Bedrohung: Hybride Kriegsführung

Thomas: Du hast vorhin das Thema "Piesacken" angesprochen. Was meinst du damit konkret?

Gerhard: Wir sehen es ja schon jetzt: Zerstörung von Glasfaserkabeln im Meer, Angriffe auf Infrastruktur, die nicht eindeutig zuordenbar sind. Jeder weiß, es war ein Anschlag, aber du kannst es nicht beweisen. Das bedeutet: Stromnetze könnten instabiler werden, Telekommunikationsnetzwerke, Brücken könnten beschädigt werden – ohne dass wir einen klaren Verursacher benennen können.

Die Resilienz auf allen Ebenen zu testen – ob Strom, Energie oder digitale Infrastruktur –, das ist die einfachste Form der Sabotage. Und genau darauf müssen wir uns vorbereiten.

Thomas: Was heißt das konkret für eine Pflegeeinrichtung oder ein Krankenhaus?

Gerhard: Lass mich ein Beispiel geben: Mein Vater ist in einem Altenheim mit 12–13 Stockwerken und im Wesentlichen drei Fahrstühlen. Allein die Menschen zu versorgen, wenn es keinen Strom mehr gäbe – wie verteilst du das Essen über 13 Stockwerke? Das darf eigentlich nicht passieren. Das heißt, du brauchst ein Notfallkonzept für Strom, zumindest für kritische Infrastruktur wie Aufzüge.

Oder denk an Wasserversorgung: Selbst wenn du lokal einen Generator hättest, könntest du vielleicht das Pumpwerk nicht betreiben. Dann hast du irgendwann kein Wasser mehr, kannst Toiletten nicht spülen – und bekommst im zweiten und dritten Schritt ein massives hygienisches Problem.

Praktische Szenarien und Vorbereitung

Thomas: Welche Szenarien sollten Träger konkret durchdenken?

Gerhard: Ich würde sagen, es gibt fünf zentrale Kategorien:

  1. NATO Host Nation Support: Was bedeutet es konkret, wenn Hunderttausende Soldaten durch Bayern oder andere Bundesländer müssen?
  2. Angriffe auf kritische Infrastruktur: Strom, Wasser, Kommunikation, Verkehr – was passiert bei Ausfällen von 24 bis 72 Stunden oder länger?
  3. Cyberattacken: Was, wenn digitale Systeme ausfallen? Denk daran: Ohne IT kannst du heute keine Küche mehr betreiben, keine Logistik machen. Das ist alles elektronisch.
  4. Pandemien: Haben wir aus Corona gelernt? Was machen wir beim nächsten Mal besser?
  5. Lieferketten und Weltwirtschaft: Was passiert, wenn klassische Lieferketten nicht mehr funktionieren – sei es durch Handelskriege, Blockaden oder andere Störungen?

Thomas: Das klingt überwältigend. Wo fängt man überhaupt an?

Gerhard: Das ist der entscheidende Punkt: Man muss nicht alles perfekt machen, aber man muss anfangen. Mein Wunsch wäre: Egal was ihr macht, macht etwas. Fangt an!

Wenn Geschäftsführende sich in einer Sitzung, die ohnehin stattfindet, eine Stunde Zeit nehmen und sich Gedanken machen – das ist besser, als nichts zu tun. Wenn jeder als Hausaufgabe die BSI-Webseite zu BSI 200-4 durchliest, ist das schon besser als ohne Vorbereitung.

Man muss in den Modus kommen: Was würde passieren, wenn es morgen losgeht? Und was würde schon helfen, wenn ich heute nur zwei Stunden für die Vorbereitung hätte?

Business Continuity Management: Mehr als nur IT

Thomas: Du hast den BSI-Standard 200-4 erwähnt. Was ist das konkret?

Gerhard: BSI 200-4 ist ein Standard für Notfallmanagement und Business Continuity. Er ist zwar ursprünglich für IT-Notfälle gedacht, aber die Prinzipien sind übertragbar. Es geht um drei Dinge:

Erstens: Business-Impact Analyse – Was bedeutet es konkret für meine Organisation, wenn bestimmte Ressourcen ausfallen? Wenn ich keine Kommunikation mehr habe, wenn der Strom weg ist, wenn Personal fehlt?

Zweitens: Krisenmanagement und Entscheidungswege – Wer darf überhaupt eine Krise ausrufen? Wer darf dann was entscheiden? Brauche ich in der Krise noch drei Unterschriften für teure Anschaffungen, oder darf ich sofort handeln?

Drittens: Tabletop-Übungen – Die wichtigsten Szenarien mal durchspielen mit den Leitungskräften. Nicht nur theoretisch durchdenken, sondern wirklich durchspielen: Was machen wir, wenn X passiert?

Thomas: Das klingt nach einem Moduswechsel für Organisationen.

Gerhard: Genau das ist es. Früher hat man unter Business Continuity gemeint, dass man die Vorstandsmitglieder auf verschiedene Flugzeuge setzt, damit nicht alle gleichzeitig ausfallen. Heute geht es um viel mehr: Stellvertreterregelungen, veränderte Entscheidungsbefugnisse, Notfallpläne für verschiedene Szenarien.

Und ganz wichtig: Eine Stakeholder-Map – Wer hängt an mir dran? Was sind meine Lieferanten? An welchen Verbänden hänge ich? Wer sind meine Nachbarn, mit denen ich mich abstimmen muss? Diese Vernetzung wird im Krisenfall entscheidend sein.

Die politische Dimension

Thomas: Du sprichst oft mit Ministerien und politischen Akteuren. Was muss auf dieser Ebene passieren?

Gerhard: Das ist eine der größten Herausforderungen. Die Kommunikation in Wohlfahrtsverbände hinein ist extrem schwierig, weil alles so dezentral organisiert ist. Du brauchst echtes Community-Management, Menschen, die Vollzeit an solchen Themen arbeiten können.

Was wir eigentlich bräuchten – und das ist jetzt Wunschdenken –, wäre ein Team von 10–15 Leuten aus verschiedenen Trägern, der Bundeswehr, verschiedenen Ministerien, die das nächste halbe Jahr als Vollzeitprojektteam in Berlin verbringen und wirklich Szenarien durcharbeiten, Checklisten entwickeln, Kommunikationsstrategien aufbauen.

Thomas: Und die Finanzierung?

Gerhard: Idealerweise würde das aus den 500 Milliarden für Infrastruktur und Resilienz kommen, die wir uns ja gerade gönnen. Es sollte nicht jeder kleine Träger überlegen müssen, wie er eine Krisenübung finanziert. Es braucht praxisnahe Leitfäden inklusive Refinanzierung, und vor allem: Sharing is Caring – nicht jeder muss sich alles neu überlegen.

Thomas: Die großen Träger könnten hier eine Schlüsselrolle spielen?

Gerhard: Absolut. Die großen Träger haben oft schon Leute, die in Richtung Politik und Rahmenbedingungen arbeiten. Wenn die anfangen würden, sich zu wichtigen Themen stärker zu vernetzen, mehr mit einer Stimme zu sprechen, mehr Input zu geben – an die BAGFW, aber auch direkt in die Politik –, dann könnten wir viel bewegen.

Das Problem ist: Die BAGFW-Geschäftsstelle hat vielleicht 12–15 Leute. Wie sollen die 2 Millionen Angestellte und 3 Millionen Ehrenamtliche in allen Bereichen sinnvoll vertreten? Du bräuchtest von jedem großen Wohlfahrtsverband mindestens 10–15 Leute, die Vollzeit hier gemeinsam an übergreifenden strategischen Themen arbeiten.

Der Weg nach vorn: Eine Initiative für Resilienz

Thomas: Was wäre dein konkreter Vorschlag für die nächsten Schritte?

Gerhard: Ich denke, wir brauchen eine Initiative – nennen wir sie meinetwegen "Deutschland Sozial Resilient" oder ähnlich. Mit ein paar starken Logos, Schirmherren, und dem klaren Ziel:

1. Szenarien entwickeln und durchspielen

  • Was passiert konkret, wenn die NATO durch Bayern muss?
  • Was bedeutet ein 72-Stunden-Stromausfall für ein Pflegeheim?
  • Wie gehen wir mit Cyberangriffen auf kritische Infrastruktur um?

2. Checklisten und Handlungsanleitungen erstellen

  • Praxisnahe, sofort umsetzbare Empfehlungen
  • Unterschieden nach Organisationsgröße
  • Mit konkreten Ansprechpartnern und Ressourcen

3. Vernetzung fördern

  • Roundtables mit Experten
  • Austausch zwischen Trägern, Bundeswehr, Ministerien
  • Best Practices teilen

4. Politische Kommunikation bündeln

  • Gemeinsame Stimme gegenüber der Politik
  • Konkrete Forderungen mit Lösungsvorschlägen
  • Nicht nur "mehr Geld", sondern auch eigene Beiträge

Thomas: Und selbst wenn der Worst Case nicht eintritt?

Gerhard: Dann haben wir trotzdem gewonnen! Die Strukturen, die wir für Krisenresilienz aufbauen – bessere Vernetzung, klarere Verantwortlichkeiten, robustere IT-Systeme, durchdachte Lieferketten – helfen uns auch bei allen anderen Herausforderungen: Refinanzierung, Fachkräftemangel, Digitalisierung, Demografie.

Die Frage ist nicht, ob wir diese Strukturen brauchen. Die Frage ist nur, ob wir sie vor oder erst nach der nächsten Krise aufbauen.

Fazit: Jetzt handeln, nicht später

Die Gespräche mit Gerhard haben mir eines klar gemacht: Die Vorbereitung auf Krisenszenarien ist keine Panikmache, sondern notwendige Vorsorge. Die zivile Gesellschaft – und damit die Sozialwirtschaft – wird im Ernstfall 80 % der Last tragen müssen. Die Bundeswehr bringt Gewehre, aber Unterkunft, Verpflegung, Logistik, Gesundheitsversorgung – das müssen wir stemmen.

Die gute Nachricht: Wir müssen nicht perfekt sein, wir müssen anfangen. Jede Stunde, die heute in Vorbereitung investiert wird, zahlt sich morgen vielfach aus.

Erste Schritte, die jede Organisation heute machen kann:

  1. Eine Stunde Krisendenken: In der nächsten Leitungssitzung eine Stunde für "Was wäre wenn"-Szenarien reservieren
  2. Stakeholder-Map erstellen: Wer hängt an uns? Wen brauchen wir im Krisenfall?
  3. BSI 200-4 durchlesen: Die Grundlagen des Krisenmanagements verstehen
  4. Notfallkontakte pflegen: Analog, gedruckt, nicht nur digital
  5. Vernetzung suchen: Mit anderen Trägern, mit lokalen Behörden, mit Experten sprechen

Die Alternative? Wie der Frosch im heißen Wasser zu sitzen und erst zu merken, dass es zu spät ist, wenn das Wasser kocht.

Gerhard Müller ist Geschäftsführer des Caritas-Netzwerk IT e.V. und ehrenamtlicher Vorsitzender des Fachausschusses Digitalisierung der IHK für München und Oberbayern. Er beschäftigt sich seit Jahren mit den Themen Digitalisierung, Cybersicherheit und Resilienz in der Sozialwirtschaft.

Thomas Schönweitz ist Geschäftsführer von whitespring, einer Innovations- und Organisationsberatung in München, sowie Service Designer, Design Thinker und Systemischer Coach.