Digitale Strategie in der Sozialwirtschaft: Ein Interview

Die Sozialwirtschaft steht vor enormen Herausforderungen: Budgetkürzungen, Fachkräftemangel und steigende Kosten zwingen Organisationen zum Umdenken. Digitalisierung kann hier der Schlüssel zur Lösung sein – wenn sie richtig angegangen wird. Im Interview mit Annika Raue erklärt Thomas Schönweitz, Geschäftsführer von whitespring, wie soziale Träger die digitale Transformation erfolgreich meistern können.

Die aktuelle Lage: Fragmentierung und unterschiedliche Geschwindigkeiten

Annika Raue: Wie erlebst du die Digitalisierung aktuell in der Sozialwirtschaft? Wo steht die Branche?

Thomas Schönweitz: Die Sozialwirtschaft ist, was Digitalisierung angeht, momentan sehr fragmentiert. Es gibt einige größere Organisationen, die schon relativ weit sind. Die haben flächendeckend viele digitale Tools für alle Mitarbeitenden implementiert oder sind gerade dabei, das auszurollen.

Dann gibt es aber auch viele Organisationen, mit denen wir zusammenarbeiten, die tatsächlich gefühlt noch sehr stark am Anfang stehen. Da sind aktuell Diskussionen über grundlegende Fragen: Was für Systeme brauchen wir überhaupt? Da gibt es keine Portale, keine Wikis, keine Systeme für zentrales Wissensmanagement außer E-Mail, keine Systeme für zentralen Austausch wie MS Teams oder andere Chat-Systeme.

Andere Organisationen sind zum Beispiel schon sehr stark und haben eine volle Integration mit Microsoft 365 – das heißt E-Mails für alle, SharePoint, Teams für Video-Calls und so weiter. Die Organisationen haben verschiedene Reifegrade, was ihre digitale Entwicklung angeht.

Ziele und Herausforderungen der Digitalisierung

Annika Raue: Welche Ziele werden mit der Digitalisierung verfolgt und wo geraten Organisationen typischerweise ins Stocken?

Thomas Schönweitz: Das Ziel von Digitalisierung in der Sozialwirtschaft ist relativ einfach: Es geht ganz massiv um Effizienz und Einsparungen. Wir kennen alle die Situation, die wir aktuell haben. Budgets werden gekürzt, wir haben den demografischen Wandel, Mitarbeitende fehlen. Wir müssen effizienter werden, die gleiche Menge an Arbeit mit weniger Leuten verrichten. Energiekosten sind gestiegen, Löhne sind gestiegen.

Ein konkretes Beispiel: Gestern habe ich mich mit jemandem unterhalten, der mir erzählte, dass sie in der Jugendhilfe für einen Bericht vier Stunden durch die letzten Berichte des letzten Jahres durchgehen mussten. So etwas kann ich heutzutage mit KI und digitaler Technik in Minuten erledigen. Die Effizienzen sind klar da, und das ist einer der größten Treiber für die Sozialwirtschaft momentan.

Die größten Missverständnisse bei der Digitalisierung

Annika Raue: Auf welche größten Missverständnisse stößt du, wenn es um dieses Thema geht?

Thomas Schönweitz: Was wichtig ist: Digitalisierung bedarf erstmal einer Veränderung von Prozessen. Wir müssen verändern, wie wir Dinge tun. Mitarbeiter müssen zusätzlich zu den Dingen, die sie heute schon tun, neue Dinge erstmal lernen. Das bedarf Zusatzaufwand. Digitalisierung ist erstmal eine Mehrbelastung der Organisation.

Erst im zweiten Schritt schaffen wir es zur Entlastung, wenn wir den Raum geschaffen haben durch Effizienzen. Diese Mehrbelastung muss ganz klar bedacht und eingeplant werden. Was auch oft übersehen wird: Digitalisierung ist nicht einfach nur die Einführung neuer Software. Die Menschen müssen ihre Handlungsschritte entsprechend anpassen, und dieses Anpassen kostet im Alltag Zeit.

Das Problem der Überlastung

Wenn wir jetzt sieben Sachen gleichzeitig machen und die Leute für drei verschiedene Produkte in der gleichen Woche ins Training müssen, wird das im Alltag kollidieren. Wir müssen bewusst die Geschwindigkeit der Organisation herausfinden – mit einem Projekt, vielleicht mit zwei. Dann stellen wir fest, wo die Organisation an ihr Limit kommt.

Was passiert, wenn wir das nicht tun? Wir starten fünf, sieben oder dreizehn Projekte. Am Anfang bekommen wir vielleicht noch für alle ein „Ja, wollen wir haben". Dann kommt Urlaubszeit, Weihnachten, oder wir sehen die Hürden im Alltag. Die Leute sind überfordert, Projekte fallen unter den Tisch, sie gammeln vor sich hin. Alle sind frustriert und demotiviert. Wir zerstören so die Digitalisierungs- und Innovationsfähigkeit der Organisation.

Der Aufbau einer guten Digitalstrategie

Annika Raue: Wie sollte eine gute digitale Strategie im sozialen Kontext aufgebaut sein?

Thomas Schönweitz: Eine Digitalstrategie ist eine Teilstrategie. Normalerweise betten wir sie in andere Strategien ein:

  1. Übergreifende Organisationsstrategie: Definiert die mittel- und langfristige Richtung der Organisation
  2. Digitalstrategie als Enabler-Schicht: Zieht sich durch alle Bereiche – HR, IT, Verwaltungsprozesse
  3. Detail-Strategien: HR-Strategie, IT-Strategie, eventuell KI-Strategie

Die Digitalstrategie kann verschiedene Aspekte umfassen:

  • Entscheidung zwischen cloudbasiertem Arbeiten oder lokalen Open-Source-Lösungen
  • Vereinfachung von Prozessen mit KI unter Beachtung von Ethik und DSGVO
  • Datenstrategie zur Entwicklung höherer Datenqualität
  • Optimierung von Kommunikationskanälen (permanente, semi-permanente und flüchtige Information)

Die IT-Strategie kümmert sich dann um die konkrete Umsetzung: Wo legen wir permanente Informationen ab? Nutzen wir Teams, Zoom oder Jitsi? Haben wir Wikis oder SharePoint?

Erfolgsfaktoren für die Umsetzung

Annika Raue: Was sind die häufigsten Erfolgsfaktoren, damit diese Strategie gelingt?

Thomas Schönweitz: Einer der häufigsten Erfolgsfaktoren ist Struktur und Begleitung. Wenn wir Projekte aufstrukturieren, brauchen wir:

  • Eine Steuerebene zur Koordination der Unterprojekte
  • Projektstrukturen mit klaren Verantwortlichkeiten
  • Eine Kommunikationsebene für interne und externe Kommunikation
  • Weiterbildung und Training

Besonders wichtig ist der Aufbau von Strukturen, wie sich die Organisation selbst gegenseitig unterstützt – zum Beispiel durch unser Digital-Lotsen-Programm. Wir professionalisieren das Teilen und Speichern von Wissen, verbessern Onboarding-Formate und werden so schneller in der Weitergabe von Wissen.

Die Bedeutung von Wissensmanagement

Wir sind als Menschheit mit dem Buchdruck unglaublich viel schneller geworden, weil wir uns auf Wissen und Erfahrung aus der Vergangenheit beziehen konnten. Viele Organisationen tun das zu wenig. Hier liegt enormes Potenzial, Prozesse zu beschleunigen.

Das ist auch kritisch für den Einstieg in KI: Eine KI ohne Daten ist nicht hilfreich. Mit gut dokumentiertem Wissen können wir später Vorschläge für Strategien machen, Chatbots für Onboarding bereitstellen oder Auskunftssysteme aufbauen.

Die Rolle der Organisationskultur

Annika Raue: Welche Rolle spielen Organisationskultur, Haltung, Kommunikation und Partizipation?

Thomas Schönweitz: Digitalisierung ist erstmal ein Mindset. Ich kann theoretisch digitalisieren, indem ich ein Foto von einem Dokument mache – das ist aber niedrigste Qualität. Wenn ich vom Mindset her gehe und sage: Wie kriege ich Daten mit vielen Metadaten angereichert? Wer hat das Dokument erstellt? Wann wurde es verändert? Welche Schlagworte sind relevant?

Ein einfaches Beispiel ist die Benennung von Dateien. Das macht einen riesigen Unterschied. Wenn ich weiß, dass Daten mittelfristig in spezialisierte Systeme überführt werden sollen, und ich bin sorgfältiger beim Aufbereiten der Daten, dann tun sich spätere Prozesse leichter.

Digitalisierung hat auch mit Datensicherheit und Datenschutz zu tun. Passwörter gehören in den Passwortmanager, nicht auf Post-its am Bildschirm. Bestimmte Dokumente haben definierte Ablageorte. Das vereinfacht und beschleunigt bereits enorm.

Mitarbeiter mitnehmen – besonders die weniger Technikaffinen

Annika Raue: Wie können weniger technikaffine Mitarbeiter von Beginn an mitgenommen werden?

Thomas Schönweitz: Viele Organisationen kennen das: Mitarbeitende, die sich gefühlt wehren oder sträuben gegen neue Technologien. Wir müssen hier unterscheiden:

  1. Mitarbeitende, die den Sinn noch nicht verstanden haben: Wenn man klar die Mehrwerte herausstellt und zeigt, wie es ihr Problem löst, sind sie oft bereit, es anzunehmen.

  2. Mitarbeitende, die bestimmte Fähigkeiten nicht haben: Hier entsteht oft Angst – „Ich kann das nicht, ich schaffe das nicht." Diese Menschen brauchen:

    • Eine Atmosphäre psychologischer Sicherheit
    • Einen Raum, wo Fehler okay sind
    • Ein Ökosystem von Menschen, die helfen und unterstützen
    • Bewusste Trainingsangebote
    • Priorisierung im Alltag, damit Raum zum Lernen da ist
  3. Mitarbeitende, die sich verweigern: Das ist dann kein Thema für Change und Transformation, sondern ein arbeitsrechtliches Thema.

Die allermeisten Mitarbeitenden wollen und gehen Digitalisierung mit, wenn sie entsprechend unterstützt werden. Es gibt nur unterschiedliche Unterstützungsbedarfe.

Der whitespring-Ansatz

Annika Raue: Wie unterscheidet sich euer Ansatz von anderen Beratungsanbietern?

Thomas Schönweitz: Wir sehen, dass viele IT-Organisationen, die Lösungen verkaufen, diese natürlich unglaublich loben – sie wollen sie ja verkaufen. Dabei werden kritische Punkte vielleicht nicht genau erwähnt. Diese Organisationen haben oft auch nicht die Kapazität und Expertise, Veränderungen und Training innerhalb der Organisation mitzubegleiten.

Wir sehen große Erfolge in einem Dreiklang: Träger, IT-Organisation und wir als Begleiter. Wir übernehmen den ganzen Part Training, Schulung, Mitarbeiter mitnehmen, psychologische Sicherheit, neue Formate, Buddy-Systeme für den Austausch untereinander. Die IT-Organisation kann sich dann auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren.

Komplexität reduzieren

Digitalisierung ist nicht kompliziert. Die Mitarbeitenden kennen WhatsApp von zu Hause, haben Alexa Smart Speaker. Es ist kein Teufelswerk. Die Hürden liegen oft in organisatorischen Kulturgeschichten: Angst vor Fehlern, fehlende Trainings, nicht adressierte Prozesse und Sorgen.

Wir nehmen Fachbegriffe raus, beschreiben in normaler Sprache, machen kein Hexenwerk daraus. So wie wir die letzten 100 Jahre auch Veränderungen und Transformationen gemeistert haben, schaffen wir auch diese. Wir müssen es nur gemeinsam machen und dranbleiben.

Konkrete Ergebnisse für Organisationen

Annika Raue: Welche zentralen Ergebnisse können Organisationen erwarten, wenn sie mit euch zusammenarbeiten?

Thomas Schönweitz: Was wir sehen, sind am Ende Einsparungen – nicht im Sinne von weniger Mitarbeitenden. Das können wir auch gar nicht, dafür gibt es viel zu viel Arbeit. Aber wir schaffen:

  • Entlastung von bürokratischen Prozessen
  • Mehr Zeit am Klienten
  • Höhere Mitarbeiterzufriedenheit
  • Mehr abrechenbare Zeit
  • Neue Geschäftsmöglichkeiten
  • Bessere Betreuungssituation insgesamt

Ein konkretes Beispiel: Spracheingabe in der Pflege kann nachweislich 10% der Zeit einsparen. Stellen Sie sich vor, Sie haben morgen 10% mehr Mitarbeiter oder 10% weniger Überstunden – oder die Leute können einfach mal früher nach Hause gehen. Da wollen wir hin. Darauf arbeiten wir hin.

Ausblick: Die nächsten fünf Jahre

Annika Raue: Welche Entwicklung siehst du für die Digitalstrategie in der Sozialwirtschaft in den nächsten fünf Jahren?

Thomas Schönweitz: Ich sage immer ganz flapsig: Digitalstrategie in der Sozialwirtschaft ist momentan relativ einfach und passt auf ein Post-it:

  1. Oberste Strategie: Überleben
  2. Darunter zwei Ebenen:
    • Mitarbeiter gewinnen oder halten
    • Neue Geschäftsmodelle und Umsatzströme generieren

Das wird in den nächsten drei bis fünf Jahren so bleiben. Es ist kein Ende des Ukraine-Konflikts in Sicht, Energiekosten werden nicht sinken, die Sozialkassen geben nicht mehr Geld her. Wir können uns darauf einstellen, dass viel konsolidiert wird.

Jetzt schon Strukturen zu etablieren ist fundamental für mehr Resilienz: Datenstrukturen, Wissensspeicher, ordentliche Prozessstrukturen, Projektmanagementstrukturen, Digital-Lotsen für kontinuierliche Weiterbildung. Damit bauen wir stabilere und resilientere Organisationen, die mit allem klarkommen, was in den nächsten Jahren auf sie zukommt – egal ob KI, Virtual Reality oder was sonst noch kommt.


Thomas Schönweitz ist Geschäftsführer von whitespring. Als Innovations- und Organisationsberatung schafft whitespring Perspektiven für die Sozialwirtschaft von morgen.

Weitere Informationen: www.whitespring.de